Das Gespräch wurde auf Schweizerdeutsch geführt. Die Antworten sind in einer gekürzten Fassung, aber sinngemäss Wiedergegeben. Der Text wurde nachträglich nochmals durch Markus Riesch geprüft.

Markus Riesch ist seit 2015 Leiter der Geschäftsstelle E-Accessibility Bund. Die Geschäftsstelle ist Teil des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und dem Departement des Innern.

Hast du die Resultate der Umfrage gelesen? Was ist dein Statement dazu? Was hat dich am meisten überrascht, bestätigt, usw.

Nein, ich konnte die Resultate noch nicht anschauen. [Resultate wurden zusammen besprochen.]

Vieles kam wie erwartet heraus. Die Informationen sind auf jeden Fall wertvoll. Erkenntnisse und Vorahnungen können dadurch unterlegt werden. Die Resultate bilden eine Argumentationsgrundlage für weitere Vorhaben.

Stakeholder

Bedarfs-/Zielgruppe

Bei PDF-Inhalten handelt es sich in aller Regel um Texte und Bilder. Daher denkt man vor allem an seheingeschränkte Personen, die von barrierefreien Dokumenten abhängig sind. Welche Anspruchsgruppe gibt es noch, die von barrierefreien PDFs profitieren?

Wichtigste Zielgruppe sind klar blinde Menschen, welche mit Screenreader auf die Inhalte zugreifen. Weiter profitieren Sehbehinderte, welche z.B. mit dem VIP-Reader Inhalte lesen.

Was oft vergessen geht sind Menschen mit motorischen Behinderungen, welche andere Hilfsmittel benötigen, wie beispielsweise Augensteuerung.

Wer weniger betroffen ist, sind Menschen mit Hörbehinderungen. Dies weil es praktisch kein Audio und Videos in PDFs hat.

Auf eurer Webseite schreibt ihr von 20% der Schweizer Bevölkerung, die das Internet nur beschränkt nutzen können. Wie hoch schätzt du den Wert, welcher von barrierefreien PDF-Dokumenten profitiert und warum?

Man kann nicht genau sagen wieviele von barrierefreien PDF-Dokumenten profitieren. Bei der Hauptzielgruppe, den blinden und sehbehinderten Menschen, geht man von 350 000 aus. Was nicht klar definiert ist aber potenziell nicht eingerechnet wird, sind altersbedingte Sehschwäche.

Die Zahl stammt aus Erhebungen vom schweizerischen Dachverband für blinde und sehbehinderte Menschen. Es wird keine 100% Statistik geführt. Die Schätzungen decken sich aber mit den Schätzungen der WHO.

Was ist mit der immer älter werdenden Bevölkerung? Sind sie auch in die 20% mit eingerechnet und wie profitieren sie von barrierefreien PDF-Dokumenten?

Wurde durch Frage zuvor beantwortet.

Gibt es sonst noch Bedarfsgruppen, die vielleicht unbewusst von barrierefreien PDF-Inhalten profitiert?

Wenn man es näher betrachtet, profitieren auch andere Zielgruppen von barrierefreien PDF-Dokumenten. Hier spielt die verbesserte Suchmaschinenauffindbarkeit und Klassifizierungen aufgrund der Maschinenlesbarkeit eine Rolle. Von Maschinenlesbarkeit profitiert auch die künstliche Intelligenz. Diese Vorteile werden gerne unterschätzt und sind enorm gross.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Bereich Archivierung. Bei der Datenrecherche profitiert man von der Semantik, welche zwingend vorhanden sein muss. Im Moment wird bei den Archivdaten nur der Standard PDF/A-1b gefordert, welche die Barrierefreiheit nicht berücksichtigt.

Gibt es eine Beschwerdestelle für nicht barrierefreie (PDF-)Informationen von Bundesbehörden?

Es gibt aktuell keine Beschwerdestelle. Es ist aber ein Thema im Zusammenhang mit der Einführung der Verpflichtung einer Barrierefreiheitserklärung für Webseiten von Behörden. Darin wird unter anderem das Vorgehen für eine Beschwerde beschrieben.

Für das Vorhaben ist das EBGB federführend und arbeitet mit dem Webforum Bund zusammen. Das Webforum ist ein Fachgremium der Konferenz der Informationsdienste (kurz: KID). Die KID ist für die Information zwischen den Departementen und dem Bundesrat zuständig.

Wieviele Beschwerden von Betroffenen gibt es und wie begründest du das?

Es gibt generell sehr wenig Beschwerden. Die Gründe können vielfältig sein. Ein Grund könnte sein, dass es Betroffene gar nicht merken ob etwas fehlt, respektive nicht zugänglich ist. Die betroffene Person könnte denken, dass sie es einfach nicht verstanden hat.

Vielleicht werden aber die PDF-Dokument des Bundes generell wenig von der Zielgruppe gelesen, weshalb weniger Reklamationen entstehen.

Genau kann ich die Gründe nicht sagen. Es ist aber umso schwieriger den Bedarf aufzuzeigen, wenn wenig Beschwerden eingereicht werden. So könnten den Argumenten nämlich mehr Gewicht gegeben und die Dringlichkeit besser aufgezeigt werden.

Wenn überhaupt werden Beschwerden nicht von Individuen, sondern von Behindertenorganisationen gestellt. Mit der Einführung einer Barrierefreiheitserklärung würde das Beschwerdewesen vereinfacht werden. Aber auch wenn man dann soweit ist, gehe ich nicht davon aus, dass man von solchen Beschwerden überrannt wird.

Aus diversen Quellen weiss ich, dass seheingeschränkte Personen HTML-Inhalten den PDF-Dokumenten vorziehen. Kannst du das bestätigen und wie kommentierst du das?

Ja, das kann ich bestätigen. Das PDF-Format hat bei Blinden und sehbehinderten Menschen historisch gesehen einen sehr schlechten Ruf. Früher war die Zugänglichkeit von PDFs noch viel schlechter als heute. Sie waren überhaupt nicht lesbar. Dieser schlechte Ruf ist bis heute geblieben.

Ein anderer wichtiger Grund ist der zu wenig ausgereifte Support von PDF-Tags auf mobilen Geräten. Die Hilfstechnologien von den Betriebssystemen iOS und Android werden noch nicht optimal unterstützt. Anders ist es bei den beiden etablierten Programmen JAWS und NVDA, welche auf einem Desktop installiert werden können. Damit werden PDF/UA konforme Dokumente gut vorgelesen. Die Nutzung von Mobilgeräten hat auch bei Blinden und sehbehinderten Menschen sehr stark zugenommen.

Dokumentenhersteller:innen

Bei der Frage was fehlt um barrierefreie PDFs zu erstellen, wurde am meisten eine zentrale Stelle und personelle Ressourcen genannt. Wie kommentierst du das? Was schlägst du vor?

Ressourcen ist immer wieder ein Thema. Grundsätzlich wäre eine bundesweite, zentrale Stelle interessant, aber nicht realistisch umzusetzen. Die Verwaltungseinheiten sind dezentral und föderalistisch organisiert und für die Umsetzung der Barrierefreiheit zuständig. Zudem wäre die Masse an Inhalten durch eine einzelne Stelle nicht umsetzbar.

Daher ist es besser wenn innerhalb der Verwaltungseinheiten die Kompetenzen gefördert werden. Dort kann es durchaus Sinn machen die Verarbeitung zentral zu kanalisieren. Dies handhaben gewisse Verwaltungseinheiten auch so.

Ist es korrekt, dass die Verantwortlichen auf Stufe Departement verantwortlich für die Umsetzung und Qualität der Barrierefreiheit ist?

Die Webverantwortlichen der Departemente sind mehr Koordinatoren und beraten. Der für Barrierfreiheit zur Verfügung stehende Pensumanteil ist 10 Prozent. Anhand von dieser Zahl sieht man, dass das Thema nicht die höchste Priorität geniesst und der Handlungsspielraum und die Möglichkeiten eingeschränkt sind. Bei Themen wie der Mehrsprachigkeit und Rechtschreibung geht man weniger Kompromisse ein als bei der Barrierefreiheit.

Verantwortlich für die Umsetzung und die Qualität ist also jede Verwaltungseinheit separat, nicht die Webverantwortlichen der Departemente.

Welchen Eindruck zur Erstellung von PDFs hast du aufgrund der Rückmeldung erhalten?

Es zeigt, dass es sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Gewisse handhaben dies schon sehr gut, gewisse noch nicht.

Es gibt noch keine Stelle welches eine Qualitätsprüfung macht. Es existieren auch keine Sanktionen. Druck kann von Aussen in Form von Beschwerden oder durch parlamentarische Massnahmen erzeugt werden.

Es wurde ja bereits einiges an Hilfsmittel eingeführt. Schlussendlich zeigt die Umfrage, dass sich Webverantwortliche alleine gelassen fühlen und die Ressourcen ausgelastet sind. Es ist eine politische Frage wie wichtig das Thema eingestuft wird.

Führung

Zitat aus Evaluation Aktionsplan (Kapitel 10.1): «Fast alle Befragten sehen ein klares Bekenntnis der Führungsetage als wichtige Voraussetzung für die Umsetzung von E-Accessibility in der Bundesverwaltung. Wird E-Accessibility nicht klar vorgegeben, so wird ihre Umsetzung jeweils durch Argumente wie Zeit- und Ressourcenmangel gedämpft»

Kommentar in Umfrage (Frage 10): … Barrierefreiheit muss zum Thema der Führungsebene gemacht werden, denn wenn die Kader nichts von Barrierefreiheit verstehen, können die Anforderungen nicht um-/durchgesetzt werden. …

Bist du der Meinung, dass Barrierefreiheit auf strategischer und operativer Führungsebene zu wenig Gewicht erhält?

Ja, das ist so. Es gibt andere Anforderungen und Themen, die höher priorisiert werden.

Wenn ja, was würde deiner Meinung helfen um dies zu verbessern? Du hast es bereits genannt: Beschwerden würden sicher weiterhelfen, oder?

Ja, mithilfe von Beschwerden könnte der Bedarf besser aufgezeigt werden. Wenn keine eintreffen, wird davon ausgegangen, dass die Barrierefreiheit genügend umgesetzt ist.

Auch der politische Druck und der Aktionen unserer Behindertenpolitik helfen dabei. Die Umsetzung erfolgt dann wiederum bei den Ämtern.

Wie gesagt glaube ich nicht, dass die Zentralisierug der Umsetzung möglich ist. Was man zentralisieren könnte sind redaktionelle Themen wie die leichte Sprache.

Aber was die PDF-Dokumente betrifft, kann die Einführung eines Headless Systems eine Chance bieten. Werden die Inhalte darin abgefüllt, ist es offen welches Endformat dafür benutzt wird.

Wer oder welche Gruppe kann mehr Mittel für die Barrierefreiheit sprechen oder auf andere Weise positiv beeinflussen? Das ist der Bundesrat und das Parlament, oder?

Ja, das ist so. Beim Parlament ist, dass dieses immer wieder Sparmassnahmen veranlasst und Personal reduzieren möchte. Auf der anderen Seite stellt es neue Anforderungen, die es umzusetzen gilt. Dies widerspricht sich und muss ausbalanciert werden. Der Bundesrat kann mehr Ressourcen fordern, schliesslich muss dies aber auch durch das Parlament genehmigt werden.

Zitat aus Kommentar 8 in Frage 2: … Barrierefreiheit ist kein Thema in der Führungsebene, sondern wird auf Praktikaten-/Mitarbeitendenebene herunterdelegiert.

Wird dem Thema von der Führung zu wenig Gewicht gegeben, steigert sich die Qualität nicht oder lässt nach einer Weile gar nach. Eine tendenziell geringe, interne Qualitätsprüfung zeigt sich auch in den Resultaten zu Frage 11.

These: Würde eine Qualitätsprüfung extern/zentral stattfinden würde der Druck erhöht werden. Fanden dazu schon Überlegungen statt oder konkret geplant?

Ein nationales Monitoring für Bund, Kantone und Gemeinden ist vorgesehen. Die resultierenden Ergebnisse können dann den Verwaltungen zur Verfügung gestellt werden.

Dieses nationale Monitoring soll innerhalb eines Schweizer Accessibility Netzwerkes erarbeitet werden. Dieses Netzwerk soll sich aus Stakeholdern des öffentlichen Dienstes sowie aus dem privaten Sektor zusammenstellen. Der Bund kann bsp. nicht die kantonalen Auftritte überprüfen. Für das nationale Monitoring braucht es daher ein Herausgeber, welcher breit aufgestellt ist.

Der grobe Fahrplan sieht vor, dass bis im Herbst 2022 Gespräche mit Stakeholdern geführt und die Bereitschaft und der Bedarf abgefragt werden. Wenn ein Commitment abgeholt werden kann, soll mit dem Aufbau nächstes Jahr begonnen werden. Vermutlich ist das Monitoring dann nächstes Jahr noch nicht bereit.

In diesem Accessibility Netzwerk sollen dann nicht nur das nationale Monitoring, sondern auch all die Tools und Standards zusammengebracht werden.

Wie regelmässig, in welcher Form und in welchem Umfang sollten solche externe Audits deiner Meinung nach stattfinden?

Das nationale Monitoring ist vorgesehen alle zwei Jahre durchzuführen. Dabei sollen ca. 250 Webseiten von Behörden und staatsnahen Betrieben geprüft werden. Mit dabei werden die darauf enthaltenen PDF-Dokumente sein.

Axes4 hat das Tool ADScan mitentwickelt. Es kann PDF Dateien crawlen und automatisiert auswerten. Wäre dieses oder ein ähnliches Tool deiner Meinung sinnvoll?

Grundsätzlich ist das Tool interessant. Dies müsste man dann gemeinsam mit Schweizer Accessibility Netzwerk anschauen.

Formatspezifische Fragen

Zitat aus dem Buch «Barrierefreie PDF-Dokumente erstellen» vom dpunkt Verlag:

PDF-Dokumente werden im Gegensatz zu Webseiten als werthaltiger empfunden. Früher wurde nur gedruckt, was auch wirklich wichtig war. Diese Mentalität übertrug sich bei der Digitalisierung dann grösstenteils auf das PDF-Format, das einem Druckprodukt ja sehr ähnlich ist.

In Bezug auf die Informationen von Bundesbehörden, für wie relevant haltest du diese Aussage? Denkst du Lesende nehmen Dokumente – allenfalls unterbewusst – als werthaltiger und vertrauensvoller wahr als Webseiten?

Diese Überlegung habe ich mir bisher so nicht gemacht. Sie ist durchaus interessant.

Ich sehe es aber nicht als Argument möglichst viel mit PDF-Dokumenten zu kommunizieren.

Der Grund für die Wahl des PDF-Formats ist eher der Weg des geringsten Widerstandes. Autoren erfassen Inhalte beispielsweise in Word und erstellen daraus ein PDF. Daraus dann HTML zu erstellen ist zu umständlich.

Gemäss Umfrage werden PDF-Dokumente nur in wenigen Fällen zu Gunsten von HTML-Inhalten ersetzt. Wie stehst du generell zur Reduktion von PDF-Dokumenten?

Ich denke Vorgaben zu machen, dass weniger im PDF-Format produziert werden soll, bringt nicht so viel. Wertvoller wäre die zentrale und medienneutrale Inhaltserstellung. Dies sehe ich innerhalb eines Headless Systems indem die Inhalte auf Basis von HTML erstellt werden. Damit findet eine kontrolliertere semantische Zuordnung statt. Das gewählte Endformat spielt dann keine grosse Rolle mehr, wobei sich dann die PDF-Dokumente automatisch reduzieren werden.